Am 5. März 2021 organisierte der Landesverband der rechtspopulistischen AfD eine Wahlkampfveranstaltung im Cannstatter Kursaal. Neben dem Spitzenkandidat für die Landtagswahl, Bernd Gögel, sowie den beiden Landtagsabgeordneten Podeswa und Balzer sprach dort auch der Bundestagsabgeordnete Marc Jongen.
Als Stuttgarter Bündnis gegen Rechts haben wir erst eineinhalb Tage vorher durch einen Post auf Facebook von der Wahlveranstaltung erfahren. Aufgrund der Pandemielage einerseits und der Kürze der Zeit andererseits haben wir uns dazu entschieden kurzfristig zu lautstarkem und kreativem Protest direkt vor dem Kursaal aufzurufen, aber auf eine klassische Kundgebung zu verzichten. Denn gerade in Krisenzeiten dürfen wir rechte Hetze – auch in Form von Wahlkampfveranstaltungen – nicht unwidersprochen zur politischen Normalität werden lassen.
100 bis 120 Menschen folgten unserem Aufruf und fanden sich eine Stunde vor Beginn der rechten Veranstaltung vor dem Kursaal ein, darunter nicht wenige Cannstatterinnen und Cannstatter.
Unser Ziel, die Rechten mit lautstarkem, antifaschistischem Protest zu konfrontieren und diesen im Anschluss auf die Straßen Cannstatts zu tragen, wurde am 5. März 2021 von der Einsatzleitung der Stuttgarter Polizei bewusst und vorsätzlich verhindert.
Als Bündnis organisieren wir seit fast fünf Jahren Proteste gegen AfD-Kundgebungen und -Veranstaltungen. Dabei sind wir gewohnt, dass die Polizei die Teilnehmer_innen der notwendigen und legitimen Proteste gegen Rechts nicht mit Samthandschuhen anfasst. Wir sind es gewohnt, dass die Stadtverwaltung bewusst rechte Anmeldungen verschweigt, um so – schon vor der Pandemie – große Mobilisierungen zu verhindern. Und wir sind es gewohnt, dass über viele Aktivitäten gegen Rechts kaum in der Presse berichtet wird. Der vergangene Freitag hatte jedoch auf unterschiedlichen Ebenen eine neue Qualität.
Die Polizei
Als »Stuttgart gegen Rechts« haben wir uns im vergangenen Frühsommer erstmals nach dem ersten Lockdown wieder dazu entschieden, zu Protest auf der Straße aufzurufen – mit Abstand, Rücksicht und unter Beachtung sinnvoller Hygienemaßnahmen. Wir können uns untereinander darauf verlassen, dass sich die Beteiligten an notwendige Regeln halten. Nicht so die Stuttgarter Polizei: Trotz der Pandemielage griffen die eingesetzten Hundertschaften mehrfach Demonstrierende an, es kam zu Schlägen ins Gesicht und Griffen an den Hals – ohne dass es seitens der Protestierenden Anstalten gegeben hätte, die extra aufgebauten Gitteranlagen rund um den Kursaal zu überwinden.
Die Polizei sorgte so frühzeitig und offenbar kalkuliert für ein Eskalieren der Situation und verhinderte einen entspannten und vielseitigen Protest unsererseits.
Besonders zynisch war vor diesem Hintergrund das regelmäßige Übertönen antifaschistischer Parolen durch Aufforderungen per Polizeilautsprecher, die Mindestabstände und das Tragen von Mund-und-Nasen-Bedeckungen einzuhalten. Die Protestierenden vor dem Kursaal trugen durchweg Masken – größtenteils sogar FFP2-Ausführungen, anders als die eingesetzten Polizeikräfte. Und wo letztere die anwesenden Antifaschist_innen nicht zusammendrückten, waren auch angemessene Abstände gegeben.
Die Gesprächsbereitschaft über den weiteren Verlauf der Proteste von Verantwortlichen seitens unseres Bündnisses wurde von der Einsatzleitung mehrmals aggressiv zurückgewiesen. An einer Deeskalation der Situation war die Stuttgarter Polizei am 5. März augenscheinlich nicht interessiert.
Die Presse
Noch am Abend der Veranstaltung erschien in der Online-Ausgabe der Stuttgarter Nachrichten ein Artikel zu den Protesten in Cannstatt. Unter dem Titel „AfD-Veranstaltung ruft Demonstranten aus dem ‚linken Spektrum‘ auf den Plan“ berichtet eine Redakteurin über die Cannstatter Ereignisse.
Dass der Stuttgarter Zeitungskonzern über Widerstand gegen die erstarkende Rechte berichtet, ist nicht selbstverständlich. Dass es in diesem Fall passiert ist gut, wenn auch die Qualität der Berichterstattung leider keinerlei journalistischen Standards entspricht. So werden Ereignisse werden verdreht und falsch dargestellt.
Es stellt sich sogar die Frage, ob die Redakteurin der StN tatsächlich vor Ort war oder ob alleine die Bilder eines Fotografen und Aussagen der Stuttgarter Polizei als Grundlage für den Artikel herhalten mussten. Mit Beteiligten des Protestes hat die Verfasserin des Artikels jedenfalls nicht gesprochen.
Die Polizei ist kein neutraler Akteur!
Die Polizei, auf deren Darstellung sich der StN-Artikel wohl maßgeblich stützt, ist kein neutraler Akteur, der zwischen „den Fronten“ vermittelt und die Geschehnisse objektiv beurteilen kann oder will. Ganz im Gegenteil. Sie steuert die Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen ganz nach ihren Vorstellungen. Auch in Cannstatt wird aus einem Polizeiangriff auf lautstarke Proteste am Ort der Versammlung ein chaotisches Bild rücksichtsloser Demonstrant_innen.
Journalismus heißt Quellen prüfen und vorliegende Informationen kritisch hinterfragen. Darüber wurde im Artikel der Stuttgarter Nachrichten mal eben hinweg gesehen. So sind die Behauptungen es hätte eine Demonstration über die König-Karl-Brücke zum Wilhelmsplatz und zurück gegeben, völlig aus der Luft gegriffen und schlichtweg eine Lüge. Ortskundige wissen auch, dass eine solche Route völlig sinnfrei und in dieser Reihenfolge auch gar nicht möglich wäre.
Es ist offensichtlich, dass hier Informationen verbreitet wurden, die ein bestimmtes Bild der Proteste – ganz im Sinne der Polizei – vermitteln. Was ausbleibt, ist ein kritisches Hinterfragen seitens der StN. Wir hingegen wissen: nicht alles, was die Polizei sagt, ist wahr.
Entgegen der Behauptungen von Polizei und Presse, wurde ein anvisierter Demonstrationszug im Anschluss an die Proteste am Kursaal von den eingesetzten Beamt_innen bereits vor Ort verhindert und an den Kursaal-Parkplätzen gestoppt. Die Straße wurde aus vorgeschobenen verkehrsrechtlichen Gründen nicht freigegeben und die Demonstrierenden auf den zu schmalen Gehweg verwiesen.
Um den Protest dennoch selbstbestimmt gestalten zu können, entschieden sich die Protestteilnehmer_innen dazu, auf die Demonstration zu verzichten und dafür, in Kleingruppen durch Cannstatt und andere Bezirke zu ziehen. So wurde im Lauf des Freitagabends durch selbst angebrachte Plakate und Briefkasten-Flyer viele Stuttgarter_innen über die Politik der AfD informiert.
Berichterstattung über die AfD muss politisch sein!
Das Erstarken der Rechtspopulisten in den vergangenen Jahren ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Rechtsentwicklung und ein politisches Problem. Wer über die AfD berichtet, kann Höcke und Gauland, Halle und Hanau, sowie Hass, Hetze und Gewalt gegen Migrant_innen, Geflüchtete und die politische Linke nicht einfach ausklammern. Doch genau das passiert im Artikel der Stutgarter Nachrichten. Ihr Text erinnert eher an den Spielbericht eines Stuttgarter Bundesligisten: „Erst passierte das, dann dies und am Ende waren 90 Minuten um und hier noch das Ergebnis“.
Kein Wort der Kritik am Präsenztreffen in geschlossenen Räumlichkeiten einer um die Querdenken-Bewegung buhlenden Partei – während einer Pandemie. Kein Wort über den unverhältnismäßigen und brutalen Polizeieinsatz gegenüber der Antfaschist_innen. Kein Wort über die Vielschichtigkeit des Protestes vor Ort.
Klar ist uns, dass journalistische Arbeit im 21. Jahrhundert von massivem Druck geprägt ist und eine sorgsame, langfristige Recherche kaum möglich ist. Die Einsparungen in Redaktionen und News-Portalen bringen Journalist_innen in schwierige Situationen. Dennoch erwarten wir ein Mindestmaß an Sorgfalt und journalistischen Standards.
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